Dienstag, 1. September 2009

Wir haben nichts vergessen - Die Opfer der Stasi Teil 2



DIE INHAFTIERUNG DER FAMILIE BEHRENS

Steckbrief (Angaben zum Zeitpunkt der Festnahme - 1984)

Name: Claudia Behrens (Namen geändert)
Wohnort: Gera

Am 9. Juli 2002 fand in Gera ein Gespräch mit Claudia Behrens statt, bei dem sie berichtete, dass sie sich in das System der DDR niemals richtig hineinleben konnte und deshalb einen Antrag auf Ausreise stellte. Eine Flucht wäre für sie jedoch niemals denkbar gewesen. Dennoch wurde Claudia 1984 wegen "Vorbereitung zur Republikflucht" zu zwei Jahren und zehn Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Wie konnte der Staatssicherheit ein solcher Fehler unterlaufen?




Die Anfänge

Schon im Alter von 17 oder 18 Jahren hatte Claudia durch die Zugehörigkeit zu einer "Clique" ihre ersten Kontakte mit der Staatssicherheit, denn was für Jugendliche heute ganz normal ist, war der Stasi damals "ein absoluter Dorn im Auge". 1974 wollte sie mit ihren Freunden nach Berlin zu den Weltfestspielen fahren. Doch die Stasi hatte Angst, dass das Festival vor allem von jungen Menschen als Anlass zu Demonstrationen gegen den Sozialismus genutzt werden könnte. Deshalb bekam Claudia ihren Ausweis entzogen und erhielt dafür einen sogenannten BM 12. Das war ein Schein, auf dem stand, dass sie den Umkreis ihres Wohnorts für den Zeitraum der Weltfestspiele nicht verlassen dürfte und sich jeden Tag um eine bestimmte Zeit bei der Polizei zu melden habe. Durch derart negative Erfahrungen bauten sich bereits im Jugendalter Wut, Frust und Hass gegen das Staatssystem auf.

Die Familie

Claudias Mutter war vom sozialistischen System wenig überzeugt, was sich auch in der Erziehung ihrer Tochter widerspiegelte. Durch Verwandtschaft in der BRD war ständig ein Kontakt zum Nachbarland gegeben und dadurch wusste Claudia auch wie "die andere Welt" aussah. Das uneingeschränkte Warenangebot und die Reisefreiheit stellten für sie schon damals einen ganz besonderen Reiz dar.

Ein Schlüsselerlebnis

Claudia zog 1975 nach Gera und bekam ein Kind, welches jedoch sehr krank war. Die Verbindung zwischen der Leber und der Galle war nicht richtig ausgebildet und in der Universitätsklinik in Jena konnte dieses Leiden nicht behandelt werden. Aber ein Professor erzählte ihr, dass in einer Klinik in Heidelberg, dem damaligen Westen, die nötigen Mittel zur Heilung zur Verfügung ständen und dass er alles versuchen wolle, ihrem Kind die Operation dort zu ermöglichen. Doch Claudia wusste sofort, dass sie die Stasi aus Angst, sie würde mit dem Kind nicht zurückkehren, niemals ausreisen lassen würde. So war es schließlich auch. Ihr Antrag wurde abgelehnt und das Kind verstarb im Alter von einem Jahr. Claudia stürzte in ein "absolut tiefes Loch". Kurze Zeit später lernte sie ihren Mann kennen und für beide war klar, dass sie die DDR endgültig verlassen wollten.

Das Missverständnis

Zur selben Zeit verliebte sich Claudias Freundin im Urlaub in einen Ungarn und wollte sich zu ihm ausschleusen lassen. Die Schleusung kostete 40.000 Westmark, doch sie bekam jeweils 1.000 Mark erlassen, wenn sie Adressen von Leuten angab, die die DDR eventuell auch auf diesem Weg verlassen würden. Aus diesem Grund nannte sie sieben verschiedene Adressen, unter anderem auch Claudias. Wenig später tauchte ein Mittelsmann bei Claudia auf und fragte sie, ob sie flüchten wolle. Doch Claudia erklärte ihm sofort, dass eine Schleusung für sie schon allein aus finanziellen Gründen nicht in Frage käme. Doch der Hauptgrund für die Ablehnung war das enorm hohe Risiko, welches mit einer solchen Flucht verbunden war. Claudia meinte: "Bei vielen hat's geklappt, [doch viele sind auch erwischt worden]." Da Claudia und ihr Mann außerdem einen Ausreiseantrag gestellt hatten, hofften sie auf diesem legalen Weg die DDR verlassen zu können. Kurze Zeit später hatte der Mittelsmann der Schleusergruppe einen Autounfall. Er war so schwer verletzt, dass er ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Dort fand man in seinem Socken einen Zettel mit einem Strichcode und für die Ärzte war klar: "Das ist ein Fall für die Stasi!" Selbige setzte ihn so unter Druck, dass er schließlich alle sieben Adressen angab. Das war im Februar 1984. Ab diesem Zeitpunkt bekam Claudia jeden Tag gegen 16 oder 17 Uhr Besuch von einem Stasi-Beamten. Schließlich machte er Claudia und ihrem Mann ein Angebot: Beide könnten sofort offiziell aus- und auch jederzeit wieder einreisen, wenn sie in der BRD für die Stasi arbeiten würden. Obwohl Claudia sofort mit einem klaren "Nein!" antwortete, versuchte die Staatssicherheit über drei Monate immer wieder, Claudia und ihren Mann für sich zu gewinnen. Im Mai 1984 fand dann eine regelrechte Verhaftungswelle im Raum Gera statt. Die Stasi inhaftierte in dieser Zeit fast jeden, der seine Unzufriedenheit mit dem Regime öffentlich bekundete. Man konnte sich als Antragsteller schon durch Kleinigkeiten verdächtig machen. Zum Beispiel durch Kerzen im Fenster. Claudia und ihr Mann trafen sich in ihrer Wohnung oft mit Gleichgesinnten, um gemeinsam Ausreiseanträge zu schreiben. Doch Claudia merkte bald, dass auch die Stasi diese Treffen mitbekommen hatte. Gegenüber ihrer Wohnung befand sich ein leerstehendes Haus, in dem sie abends oft das Licht einer Taschenlampe erkennen konnte. Ihr war klar, dass sie bespitzelt wurde. Immer häufiger bemerkte sie auch beim Einkaufen "einen Schatten" hinter sich. Überraschenderweise sagte Claudia: "Manchmal hat man dermaßen darüber gelacht! Die Idioten machten's auch noch so, dass du's mitbekamst!"

Die Verhaftung

An einem Morgen im Mai wurden Claudia und ihr Mann um 6.30 Uhr aus dem Schlaf gerissen. Vor ihrer Tür standen einige Beamten der Staatssicherheit, welche die beiden aufforderten, ihre Personalausweise zu holen und mit ihnen zu kommen. Da war Claudia sofort klar: "Nun ist es zu spät." Als die beiden nach unten geführt wurden, merkte Claudia, dass acht Leute von der Stasi im Haus verteilt waren. Im Interview sagte sie lachend: "Wegen uns zwei Männekiken!" In getrennten Autos wurden sie dann zum Gefängnis in der Amthorstraße transportiert. Als sich die Tore hinter ihr schlossen, wusste Claudia: "Du kommst hier nicht mehr raus." Am nächsten Tag erfuhr Claudia dann, dass sie wegen "landesverräterischer Agententätigkeit, Kontaktaufnahme zu einer kriminellen Menschenhändlerbande und Vorbereitung zur Republikflucht" angeklagt war.
Nach vier Monaten Untersuchungshaft erhielt sie ihre Anklageschrift. Die Gerichtsverhandlung, die generell unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, war nur "eine Farce". Es stand von Anfang an fest, dass Claudia und ihr Mann verurteilt werden würden. Sie bekam zwei Jahre und zehn Monate, ihr Mann drei Jahre Freiheitsstrafe. Der einzige Trost, den ihnen ihr Anwalt geben konnte, war, dass aus Erfahrung meist nur die Hälfte der Zeit verbüßt werden musste. Ihr Mann wurde nach Cottbus, Claudia nach Hoheneck in ein Frauenzuchthaus gebracht.

Im Gefängnis

Die Zustände dort waren katastrophal: 20 Frauen lebten in einem 40 qm großen Zimmer mit Drei-Etagen-Betten. Die einzige Waschgelegenheit war ein riesiges kuhtränkenähnliches Becken mit fünf Wasserhähnen. Für 20 Frauen waren zwei Toiletten vorgesehen. Warmes Wasser, geschweige denn eine Dusche gab es nicht. Jeden Tag wurde den Gefangenen nur eine Stunde "Freihof" gewährt. Die politischen Häftlinge, zu denen auch Claudia gehörte, wurden bewusst nicht von anderen Straftätern getrennt. In Claudias Zelle waren fünf politische Gefangene und fünfzehn Kriminelle untergebracht. Da in der DDR Verbrechen wie Mord verschwiegen wurden, war Claudia dementsprechend geschockt, als sie allmählich erfuhr, weshalb ihre Mitgefangenen eingesperrt waren. Sie schlief tatsächlich mit Frauen in einem Raum, die ihre Kinder misshandelt oder getötet hatten. Am schlimmsten für Claudia war es, zusammen mit einer Kriegsverbrecherin eingesperrt worden zu sein. "Die hatte in Buchenwald den toten Kindern die Haut abgezogen und Lampenschirme daraus gemacht", erklärte Claudia mit Entsetzen in der Stimme. Die Speise- und Getränkerationen wurden mit Hormonen präpariert. Claudia hatte in den fünfzehn Monaten ihrer Inhaftierung nur zwei Mal ihre Periode, war "aufgedunsen und aufgebläht". Die Frauen wurden auf diese Weise "ruhig gestellt" und die, die länger als zehn Jahre einsaßen, haben sich auch mehr und mehr zum Mann entwickelt: Die Brust war kaum noch zu sehen und allmählich begannen viele Frauen auch sich wie Männer zu benehmen und ihre "grobe Sprache" anzunehmen. Offen gestand Claudia: "Es war übelst! Als ich rausgekommen bin, [wollte ich] nie wieder Kontakt [zu Frauen]. Ich wusste nicht, ob ich jemals wieder eine Freundin haben kann. Was da an Sexspielen abgelaufen ist, die du notgedrungen mit ansehen musstest, ob du wolltest oder nicht!" Besonders deprimierend empfand Claudia das gemeinsame Waschen, bei dem sie dem unangemessenen Verhalten einiger lesbischer Mitgefangener schutzlos ausgeliefert war. "Doch das ist noch das Wenigste, was da abgelaufen ist", kommentierte sie dieses Erlebnis. Doch Claudia war stark und kämpfte gegen die Einflüsse innerhalb der Gefängnismauern an. "An mich kommt keiner ran. Mich macht hier [niemand] fertig!" Diese Worte betete sie sich ständig vor. Das letzte, was sie wollte, war sich ihr weiteres Leben kaputtmachen zu lassen, also versuchte sie "alles an [sich] abprallen zu lassen". Schließlich wusste sie, dass nach Absitzen ihrer Strafe die Freiheit auf sie wartete. Um die Gefangenen zu beschäftigen, wurde in Hoheneck in drei Schichten gearbeitet. Claudia war froh über diese Abwechslung, auch wenn sie den ganzen Tag nur an derselben Maschine saß und Knopflöcher stanzen musste. Sie erhielt dafür circa 40 Ostmark im Monat, bekam aber nur die Hälfte davon ausgezahlt. Der Rest wurde auf ein Konto überwiesen, über welches sie erst am Tag ihrer Entlassung verfügen konnte. Claudia durfte jeden zweiten Monat einmal Besuch empfangen. Sie wählte als Bezugsperson ihre Mutter, denn ein Wechsel der Besucher war nicht erlaubt. Doch das Zusammentreffen fand in einer ziemlich angespannten Atmosphäre statt. Durch eine Glasscheibe wurde jeglicher Körperkontakt zwischen Mutter und Tochter verhindert und eine Aufsichtsperson überwachte das Gespräch zusätzlich, denn Themen, die eine schlechte gesundheitliche Verfassung oder die miserablen Zustände im Gefängnis betrafen, durften nicht angesprochen werden. Claudia war es auch gestattet, einmal im Monat einen nicht mehr als eine Seite umfassenden Brief zu formulieren, den sie immer abwechselnd an ihren Mann und an ihre Eltern adressierte. Doch diese Briefe wurden auf die gleiche Weise zensiert wie die Gespräche. Claudia sagte dazu: "Du wusstest gar nicht, worüber du schreiben solltest. Nur: Mir geht's gut. Macht euch keine Sorgen. Ich liebe dich. Du hattest echt Probleme, die Seite vollzukriegen. Ich habe dann aber auch teilweise einen Code entwickelt, über den ich mich verständigen konnte." Erhielt Claudia ein Paket, so war es bereits geöffnet und der gesamte Inhalt durchsucht. "[Es war genauso,] wie man's aus Filmen kennt", so Claudia. Woche für Woche hoffte sie darauf, endlich freigelassen zu werden, denn einige Frauen wurden schon kurze Zeit nach ihrem Haftantritt entlassen, andere mussten ihre gesamte Strafe verbüßen.
Nach fünfzehn Monaten, also ungefähr der Hälfte ihrer Haftzeit, wurde schließlich auch sie abgeholt. Ob auch ihr Mann die Freiheit erlangte, wusste Claudia nicht. Normalerweise wurden Ehepaare zwar gemeinsam ausgebürgert, doch die Angst den Partner zurücklassen zu müssen, bestand dennoch. Bevor man die Häftlinge endgültig entließ, wurden sie noch einmal in der Abschiebehaft in Chemnitz zwischenstationiert. Drei Wochen lang teilte sich Claudia mit zwei Frauen eine Zelle, die gerade so groß war, dass zwei Doppelstockbetten, ein Waschbecken und eine Toilette hineinpassten. Doch Claudia wusste: "Jetzt geht's schnell. Jetzt geht's in ein paar Tagen Richtung Westen." Nach vierzehn Tagen sah sie ihren Mann wieder und beide bekamen die Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt. Auf diese Weise wurde der Staat alle Andersdenkenden los und verdiente zusätzlich circa 80.000 Westmark an jedem Häftling, denn das war der Preis, den die BRD für die Befreiung zahlen musste.

Endlich frei!

Mit zwei Bussen wurden die inhaftierten Frauen und Männer in Chemnitz abgeholt und zur Grenze transportiert. Die Stimmung während der Fahrt war sehr angespannt, denn auf dem hinteren Sitz eines jeden Busses saß ein Stasi-Beamter mit einem Gewehr. Zusätzlich wurde der Konvoi von mehren Einsatzwagen begleitet. Doch kaum war die Grenze überwunden, jubelten alle Häftlinge ausgelassen. "Du konntest es gar nicht fassen, [...] vom Knast plötzlich in die Freiheit! Wir haben alle geheult!" erinnerte sich Claudia. Auf einem Parkplatz stiegen dann Leute aus dem Gießener Auffanglager ein und begrüßten die neuen BRD-Bürger. In Gießen selbst konnte dann jeder angeben, wo er hinwollte. Claudia und ihr Mann wählten Hamburg als ihre neue Heimat aus.

Nach der Wiedervereinigung kehrte Familie Behrens nach Gera zurück, denn wie so viele erhoffte auch sie sich die Möglichkeit im Osten eine eigene Firma zu gründen.

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