Freitag, 20. November 2009

Wir wollen raus - Teil 7 - Brigitte Kynast - 50 Meter die endlos schienen


Berlin/Friedberg Sie blutet an der Kopfhaut, weil sie zuvor mit den Haaren im Stacheldraht zwischen Ost- und Westberlin hängengeblieben ist. Und doch lächelt sie. Ein junger Helfer führt die 20-Jährige nach der gerade gelungenen Flucht aus der DDR weg in die Sicherheit. Ein glückliches attraktives Paar, so scheint es. Dieses Bild aus dem Jahr 1961 ist überlebensgroß im Mauermuseum in Berlin zu sehen. Die dramatische Fluchtszene zuvor ist in der Wochenschau gelaufen, ist häufig in Fernsehdokumentationen zu sehen und Teil von Spielfilmen. Für die Medien war die Frau damals die „Braut“ des Fluchthelfers. Doch das Bild sagt nur die halbe Wahrheit.

Brigitte Kynast - die heute in Friedberg lebt - hat den Fluchthelfer zum ersten Mal an der Grenze gesehen. Und ihr Glück über die gelungene Flucht ist schnell verflogen. Denn ihr richtiger Mann hat es nicht wie geplant geschafft, mit den beiden kleinen Kindern hinterherzukommen. Darum ist die junge Mutter bald wieder nach Ostberlin zu ihrer Familie zurückgekehrt und hat dort Schikanen erlebt.

Doch der Reihe nach: Die junge Familie von Brigitte lebte 1961 mit in der kleinen Wohnung ihrer Mutter in Berlin-Pankow. Nur eine Stube hatte dort das Ehepaar für sich und ihren dreijährigen Sohn Jörg und für Baby Andreas. Der Ehemann war ein Grenzgänger. Er arbeitete bei Telefunken in West-Berlin und wohnte in Ost-Berlin. Ziel war der Westen. Dorthin schaffte die Familie auch nach und nach alles, was sie sich erarbeitet hatte, herüber zu Tante Else: Zu ihr transportierte die Familie im Kinderwagen unter anderem Porzellan, Bettzeug und eine auseinandergelegte Stehlampe. „Wir dachten, wir haben alle Zeit der Welt“, erinnert sich Brigitte Kynast. Am Vortag des geplanten Grenzübertritts ließ die Familie schon den dreijährigen Jörg bei der Tante im Westen. Ausgerechnet am 13. August 1961 wollte das Ehepaar mit dem fünf Monate alten Baby hinterher: Es war zufällig ausgerechnet der Tag, an dem die Grenze dichtgemacht wurde. Mit „Wut“ und „Hass“ beschreibt Brigitte Kynast ihre damaligen Gefühle. Für sie war es unvorstellbar, dass es 28 Jahre bis zum Mauerfall dauern würde. Nach einigen Tagen brachte Tante Else Sohn Jörg zurück in den Osten.

Die Familie plante weiter die Flucht. Als die Gartenlaube eines Bekannten an der Grenze abgerissen wurde, ergab sich am 25. September 1961 die Gelegenheit: Als Fluchthelfer im Westen den mannshohen Stacheldraht aufschnitten, wurde Brigitte Kynast mit einer Bekannten vorausgeschickt. „Rennt ihr los, wir kommen nach“, lautete das Kommando der Männer und die Frauen rannten. Die heutige Friedbergerin glaubt noch das Geräusch gehört zu haben, dass jemand ein Gewehr durchlädt. „Es waren nur 50 bis 80 Meter. Doch die erschienen mir endlos“, erinnert sie sich. Die Ost-Berlinerin kam bis zum Stacheldraht und blieb dort mit den Haaren hängen. Fluchthelfer zogen sie hinüber. Ihr Mann konnte ihr nicht folgen. Weil Grenzposten Stellung bezogen, war ihm die Flucht mit den beiden kleinen Kindern zu riskant.

Für Brigitte Kynast folgten gut zwei Wochen im Flüchtlingslager in Berlin und bei Verwandten in Bayern. Im ersten Moment hoffte sie noch auf eine Familienzusammenführung, setzte sich aber selber eine Frist. Denn ihr war klar: „Ich halte es nicht aus ohne meine Kinder. Eine Mutter kann ihre Kinder nicht alleine lassen.“ So ging sie nach der kurzen Zwischenstation im Westen freiwillig zurück in die DDR. Die West-Grenzer fragten sie noch: „Sind Sie verrückt?“ In der DDR folgten drei Monate Haft. Dann wurde sie wegen Republikflucht verurteilt. Dass die zwei Jahre Haft auf Bewährung ausgesetzt wurden, hatte Brigitte Kynast glücklichen Umständen zu verdanken: unter anderem, weil ihr Mann als Techniker gefragt war, und wegen der kleinen Kinder. Völlig überraschend für ihre Familie kehrte die Verurteilte zurück: „Dann haben wir eine Runde abgeheult.“

Erst nach dem Mauerfall konnte Brigitte Kynast die DDR verlassen. Als Rentnerin zog sie 2000 nach Bayern, zunächst nach Eurasburg, 2006 nach Friedberg. Übrigens, den Fluchthelfer Günter Jacobsen, der sie 1961 in die Arme nahm, hat Brigitte Kynast vor Kurzem in Berlin zum ersten Mal nach 48 Jahren wieder getroffen.

Quelle: www.augsburger-allgemeine.de

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