Samstag, 7. November 2009

Wir wollen raus! - Fluchtgeschichten -Teil 5- Mit dem U-Boot durch die Ostsee - Walter Gerber


Im Sommer 1979 reift der Plan in Walter Gerber heran, mit dem U-Boot durch die Ostsee zu flüchten. Die Gründe dafür liegen Jahre zurück. Gerber arbeitet damals im VEB Schiffselektronik Rostock. In zwei Fernstudien hat er sich zum Diplomingenieur für Mikroelektronik qualifiziert, tüftelt in seiner Freizeit stundenlang im Keller und in der Garage herum, baut Radios und Fernseher und führt ein unauffälliges, normales Leben. Mitte der 70er Jahre ist das vorbei, erzählt Ingrid Gerber, die Frau des mittlerweile verstorbenen Ingenieurs: "Mein Mann war kurz vor Abschluss seines Diploms. Eines Tages hat man ihn in ein Zimmer gerufen, das bis dahin für alle Mitarbeiter tabu war und von dessen Existenz man nichts wusste. Dort saß die Staatssicherheit. Die hat meinem Mann dann offenbart, dass er verpflichtet werden würde, Dienste zu leisten, da er 13 Jahre auf Kosten des Staates studiert hätte. Ansonsten könne er sein Diplom vergessen."

Zur Bespitzelung gezwungen

Walter Gerber ist hin und her gerissen, ihm liegt sehr viel an seinem Abschluss. Als Angestellter der Schiffselektronik Rostock ist er Geheimnisträger, die Stasi entbindet ihn jedoch von seiner Schweigepflicht. Ihr gegenüber soll er Aussagen über betriebliche Dinge machen, zum Beispiel über die in Wolgast hergestellten Kriegsschiffe, deren Funkanlagen Gerber betreut. Die Stasi ist hellhörig geworden, weil aus dem Kollektiv, in dem der Ingenieur arbeitet, zwei Männer in den Westen gegangen sind. Gerber soll Informationen weitergeben. Der ruhige, zurückhaltende Mann ist nicht der Typ, dem Druck der Staatssicherheit zu widerstehen. Er erzählt seinem Führungsoffizier, was der hören will. Nach eineinhalb Jahren ändert sich die Situation, erinnert sich Frau Gerber: "Mein Mann merkte recht bald, dass das nicht nur auf betriebliche Dinge zugeschnitten war, sondern dass es ganz persönlich werden sollte: Mein Mann sollte seine Kollegen bespitzeln. Das hat er aus Gewissensgründen verweigert. Er hat sehr darunter gelitten und das Ganze lange für sich behalten. Erst als er massive Schlafstörungen und Magenprobleme bekam, hat er mir gesagt, dass er von der Staatssicherheit erpresst wird."

Walter Gerber macht Aussagen über Kollegen, allerdings nur allgemeine und sehr freundliche, er unterschreibt keine Verpflichtungserklärung für eine inoffizielle Mitarbeit, sagt seine Frau. Irgendwann hält der Schiffselektroniker das alles nicht mehr aus. Im Oktober 1977 macht er seinem Freund Ulrich Chill ein Geständnis: "Wir haben uns in der Gaststätte 'Kosmos' in Rostock getroffen. Es war richtig regnerisches und hässliches Wetter. Er hat mir dann gesagt, dass er für die Staatssicherheit arbeitet; dass er eine Kontaktperson hat, dass er Berichte abgeben musste und dass er diese Berichte geschönt hatte, weil er ja eigentlich ein Mensch war, der keinem etwas zuleide tun konnte. Das sei dann irgendwie herausgekommen und er hätte Probleme bekommen, weil er unwahre Angaben gemacht hat. Er war einfach nicht fähig, Menschen zu denunzieren. Ich denke mal, dass er versuchte, so rauszukommen und so noch anständig zu bleiben. Aber das war bei dem doppelten und dreifachen Überwachungsmechanismus der Stasi natürlich eine Illusion."

Stasi verhindert Jobwechsel

Walter Gerber sucht einen Ausweg. Er will den VEB Schiffselektronik verlassen und bewirbt sich an der Rostocker Universität bei Professor Horst Klinkmann, dem Direktor der Klinik für Innere Medizin. Gerbers Frau erinnert sich: "Mein Mann bekam dort einen Honorarauftrag und hat zur vollsten Zufriedenheit von Professor Klinkmann gearbeitet. Schließlich bekam er die hundertprozentige Zusage, auf Wunsch eingestellt zu werden. Als mein Mann darauf zurückkam, bekam er eine Absage mit der Begründung, laut Planstelle könne man ihn nicht einstellen. Meinem Mann war klar, dass dies von der Staatssicherheit vereitelt wurde. Er hat sich dann noch in einer Ingenieurschule in Warnemünde beworben, auch da bekam er eine Zusage. Später bewarb er sich im Südkrankenhaus Rostock, auch dort sagte man ihm zu. Vierzehn Tage später bedauerten beide Stellen jeweils, dass man ihn doch nicht einstellen könne. In Stasi-Unterlagen habe ich später gelesen, dass die Staatssicherheit dafür verantwortlich war. Sie wollten ihn bei Schiffselektronik festnageln."

Hinzu kommen bedrückende Wohnverhältnisse. Seit einiger Zeit versuchen die Gerbers, ihre kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in der Rostocker Südstadt gegen eine größere einzutauschen. Das gelingt trotz mehrmaliger Versuche nicht. Die Tochter Stefanie, damals im Vorschulalter, merkt nichts von den Bedrängnissen ihrer Eltern. Sie wächst unbeschwert bei ihren Großeltern auf: "Die Großeltern wohnten etwa drei Minuten von uns entfernt. Ich war sehr oft dort. Wir hatten in der Nähe unseres Wohnblocks einen richtig großen, alten Garten mit wunderschönen alten Bäumen. Ich bin fast jeden Tag mit meinem Großvater in diesem Garten gewesen - dort bin ich aufgewachsen."

Verzweiflung hinter der Fassade familiärer Idylle

Stefanie Gerber wünscht sich manchmal, dass ihr Vater mehr Zeit für sie hat. Wenn er abends nach Hause kommt, liegt sie meist schon im Bett. Trotzdem ist das Verhältnis zwischen den beiden liebevoll: "Mein Vater war immer sehr ehrlich. Ich kann mich daran erinnern, dass ich aus dem Kindergarten einmal ein Puppenkleid mit nach Hause gebracht habe, wahrscheinlich weil ich es schön fand, nicht weil ich es wegnehmen wollte. Und ich weiß noch, dass mein Vater gesagt hat, 'Das musst du morgen aber sofort wieder hinbringen!' Er hat ein ziemliches Drama daraus gemacht. Mein Vater war ein sehr ehrlicher Mensch und konnte wirklich keiner Fliege was zuleide tun. Er hing sehr an seinem Beruf und konnte sich mit Problemen so lange auseinandersetzen, bis er sie gelöst hatte. Er war für mich immer ein liebevoller Vater. Wir haben zusammen Puppensachen genäht. Das fand er immer toll, mir solche Sachen zu zeigen, vor allem, wenn es um handwerkliche Dinge ging."

Die familiäre Idylle trügt. Längst ist Walter Gerber so verzweifelt über seine Lage, die Stasi-Verhöre, die gescheiterten Wohnungswechsel und die vergeblichen Bewerbungen in anderen Betrieben, dass ihm nur noch ein Ausweg sinnvoll erscheint. Er will die DDR verlassen. "Mein Mann war sehr verbunden mit dem Wasser. Das war für ihn ein Symbol für Freiheit. Schon als junger Mensch hat er in Warnemünde viel mit der See zu tun gehabt. Er kannte den Breitling bestens. Für ihn war kein anderer Weg denkbar als die Flucht über die Ostsee."

Einen Ausreiseantrag hält Walter Gerber für aussichtslos, schließlich ist er Geheimnisträger. Hinzu kommt die Angst vor beruflichen Nachteilen. Wenn er offiziell eine Ausreise beantragt, kann es Jahre dauern, bis er das Land verlassen darf - wenn er überhaupt jemals eine Erlaubnis bekommen würde. So kommt der Schiffselektroniker auf die Idee, ein U-Boot zu bauen: "In seiner Not und in seiner Bedrängnis ist mein Mann auf diesen Gedanken gekommen. Für mich ist es noch heute unvorstellbar, unter diesen Bedingungen ein U-Boot zu bauen. Vor allem mit dieser Angst, entdeckt zu werden."

Baubeginn in der Garage

Im August 1979 beginnt Walter Gerber mit dem Bau des U-Bootes. Niemand ahnt etwas davon, nicht einmal die eigene Familie. Er liest Bücher über U-Boot-Bau, informiert sich über die Verarbeitung von Glasfaser- und Plastematerial und entwirft genaue Zeichnungen. Um nicht im Radar erfasst zu werden, will der Ingenieur mit seinem Plaste-U-Boot bis zur Drei-Meilen-Zone unter Wasser bleiben. Dann will er auftauchen, auf dem Wasser nach Dänemark fahren und von dort in die Bundesrepublik weiterreisen; alles allein, sagt seine Frau: "Ich habe nichts geahnt. Wir haben eine harmonische Ehe voller Achtung voreinander geführt. Ich hätte nie gedacht, dass mein Mann Geheimnisse hat oder etwas tun würde, wovon ich keine Ahnung habe. Das U-Boot hat mein Mann in unserer Garage gebaut, die fünf Minuten von unserer Wohnung entfernt lag. Er hat dort die Betondecke ausgehoben, eine Grube zementiert und diese mit 2000 Litern Wasser gefüllt. Das war sein Versuchsbecken."

Das Wasser dafür holt sich Walter Gerber aus dem Kringelgraben, der in der Nähe der Garage entlang fließt. Im Dunkeln schleppt er es mit Eimern und kleinen Gefäßen heran. Die Grube, etwa zwei Meter lang, deckt er mit Holzbohlen und Fußbodenbelägen ab, darüber steht der Wartburg. Monatelang arbeitet Gerber intensiv an dem U-Boot, verwendet Waschmaschinen-, Auto- und Sanitär-Ersatzteile, installiert Akkumulatoren für den Antrieb, baut neben einer Ruderanlage ein System zum Fluten sowie einen Kompass ein und stattet das U-Boot mit einem Peilgerät für die Seefunkfeuer von Warnemünde und dem dänischen Gedser aus. Und der Tüftler baut sich einen Pkw-Anhänger um, auf dem er das U-Boot transportieren kann.

Arbeitskollegen helfen unbewusst mit

Die Arbeitskollegen vom VEB Schiffselektronik helfen indirekt mit. Dierk Schröder, damals Vorgesetzter von Walter Gerber, erinnert sich: "Wir haben gemeinsam für seinen Anhänger einen alten Trabant aus dem Moor gezogen, von dem er den Dreieckslenker für seinen Hänger verwenden konnte. Oder er bekam einen Freigabeschein für das Zugrohr von der Werft, ein anderer brachte alte Seekarten mit, der nächste half mal mit Klebemitteln aus. Wir hatten alle einen kleinen Anteil zu dem Boot beigetragen, aber keiner hat etwas davon geahnt." Auch Ingrid Gerber fällt nichts Ungewöhnliches am Verhalten ihres Mannes auf: "Er hat eben viel gebastelt, getüftelt und selbst Autos repariert. Das gehörte bei uns zum Leben dazu. Es hat mich überhaupt nicht stutzig gemacht, dass er abends später zum Abendbrot kam oder noch mal in die Garage ging - das war für mich Normalität."

Der Plan: Familienzusammenführung im Westen

Walter Gerber weiht seine Familie aus zwei Gründen nicht ein: Erstens will er vermeiden, dass durch eine unvorsichtige Äußerung alles auffliegt; zweitens möchte er Frau und Tochter nicht belasten, indem er sie zu Mitwissern macht. Der Ingenieur will das Land allein verlassen und dann seine Familie nachholen. Er vertraut dabei auf das KSZE-Abkommen von Helsinki, das 1975 von 35 Staaten unterzeichnet wurde - auch von der DDR. Laut Abkommen ist eine Familienzusammenführung auch bei Republikflüchtlingen möglich. In der KSZE-Schlussakte heißt es dazu:

"Die Teilnehmerstaaten werden in positivem und humanitärem Geist Gesuche von Personen behandeln, die mit Angehörigen ihrer Familie zusammengeführt werden möchten ... Personen, deren Gesuchen ... stattgegeben wurde, können ihr Haushaltsgut und ihre persönliche Habe mitführen oder versenden ... Die Teilnehmerstaaten bestätigen ..., dass die Einreichung eines Gesuchs betreffend Familienzusammenführung zu keiner Veränderung der Rechte und Pflichten des Gesuchstellers oder seiner Familienmitglieder führen wird."

Erster Fluchtversuch

Nach einem Jahr ist Walter Gerber mit dem Bau des U-Bootes fertig. Es ist knapp zwei Meter lang, einen halben Meter breit und wiegt etwa 70 Kilogramm. Unter dem Vorwand einer Dienstreise verlässt er seine Familie. Am Abend des 12. August 1980 beginnt sein erster Fluchtversuch. Ingrid Gerber erinnert sich: "Ich weiß auch heute noch, wie er am Bett unseres Kindes stand und dort länger blieb als sonst. Aber diese Gedanken, dass mir das komisch vorkam, habe ich erst später registriert. 1980 war der Sommer so verregnet - das hatte er nicht genug bedacht. Er steckte mit dem U-Boot in der aufgeweichten Wiese fest und konnte nicht vor und nicht zurück. Mit unerträglichen Ängsten und unvorstellbaren Kräften ist es ihm gelungen, es wieder heraus zu bekommen. Dann ist er in der gleichen Nacht an den Breitling gefahren. Dort musste er feststellen, dass die Stelle so aufgebaggert war, dass er nicht tief genug zu Wasser kommen konnte. Er hatte den Bleiballast - das war Anglerblei - aus der ganzen DDR aufgekauft und zusammengeschmolzen, um das U-Boot mit eigenen Kräften in den Breitling reinzuschieben. Und das ist ihm nicht gelungen. Es fing an zu dämmern, man musste damit rechnen, dass erste Urlauber vorbei kamen, die ihre Boote dort festgemacht hatten. Mein Mann ist dann im Morgengrauen zurück gefahren."

Das Blei bleibt im Wasser zurück. Walter Gerber fährt wieder zur Garage, versteckt das U-Boot und steht am 13. August 1980 morgens um fünf Uhr vor seiner aufgeschreckten Frau: "Ich seh' ihn heute noch: Total am Ende, nass, übernächtigt, es fehlten ihm auch einige Kleidungsstücke. Mein Mann hat einige Tage im Bett gelegen. Er war seelisch und körperlich völlig am Ende. Und dann hat er mir gesagt, dass er ein U-Boot gebaut hätte, weil die Erpressung durch die Stasi so stark gewesen wäre, dass er keinen anderen Ausweg gesehen hätte. Er könne das mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, seine Kollegen zu verraten. Ich habe dieses U-Boot nie gesehen. Nur meine Mutter ist mit ihm in die Garage gegangen und hat es sich angesehen. Ich hab's aus Angst nicht gemacht."

Zweiter Fluchtversuch

Ingrid Gerber bittet ihren Mann, sein Leben nie mehr so zu riskieren. Er verspricht es. 14 Tage später versucht Walter Gerber erneut die Flucht. Vorher baut er sein U-Boot um. Er entfernt den eingebauten Ballasttank, um das Boot leichter zu machen. Mit einem Dienstreiseauftrag fährt Gerber am 26. August nach Wolgast, kehrt am Abend aber nach Rostock zurück, holt das U-Boot und schiebt es am Strand von Stove, nordöstlich von Wismar, in die See. Es ist zwei Uhr morgens: "Mein Mann kam in Stove tief genug zu Wasser, stieg voller Freude in das U-Boot, verschloss den Deckel und das Boot setzte sich in Bewegung. Nach einiger Zeit musste er mit Schrecken feststellen, dass das Boot durch den fehlenden Bleiballast zu leicht war und dadurch nicht mehr geradeaus lenkbar war. Er musste das Boot wieder zurück zum Strand bringen und hat es dort schweren Herzens versenkt. Ich habe von dem Versuch nichts gewusst. Das habe ich erst durch die Verhöre der Staatssicherheit mitbekommen."

Dritter Fluchtversuch

Walter Gerber fährt zurück nach Wolgast, damit niemand seine Abwesenheit bemerkt. Das U-Boot wird noch am selben Tag von Urlaubern am Stover Strand gefunden und von den Behörden beschlagnahmt. Noch ist der Ingenieur sicher - niemand bringt ihn mit dem versenkten Wrack in Verbindung. Doch die Fluchtgedanken lassen den 36-Jährigen nicht mehr los. Von einem Kollegen erfährt er, dass die Grenze zwischen Ungarn und Österreich nachts leicht zu überwinden sei. Gerber besorgt sich ein Visum für Ungarn und bricht am 1. Oktober 1980 morgens um sechs Uhr mit seinem Wartburg auf. Seiner Frau täuscht er wiederum eine Dienstreise vor. Da Gerber nur wenige Sachen mitgenommen hat, darunter zwei Atlanten, Ferngläser und ein Kompass, fällt er den Kontrolleuren an der Grenze zur CSSR am Grenzübergang Schmilka auf: "Mein Mann war alleine, ohne Familie, und wurde nach dem Grund gefragt, weshalb er nach Ungarn wolle. Er sagte, er wolle sich nach einem Ferienplatz umschauen. Das hat man ihm nicht abgenommen. Wenn ein Mann ohne Familie kam, war das Grund genug, Vermutungen anzustellen." Walter Gerber wird nach Pirna gebracht und dort verhört.

Hausdurchsuchung

Noch am gleichen Abend tauchen zwei Männer bei Ingrid Gerber in Rostock auf: "Unsere Tochter war gerade ins Bett gegangen, da sah ich draußen vor dem Fenster zwei Männer in Lederjacken mit einem Feuerzeug hantieren. Im nächsten Moment klingelte es. Ich bin dann an die Tür gegangen und habe gefragt, wer da sei. Und ein Mann sagte, ich solle sofort die Tür aufmachen, oder sie würden sie einbrechen. Ich habe dann aufgemacht. Ich kriegte Angst, weil mir schnell klar wurde, dass es um meinen Mann gehen musste. Und dann standen sie in der Wohnung und zeigten mir ihren Ausweis. Meine erste Frage war 'Ist was mit meinem Mann?' Ironisch die Antwort 'Ihr Mann erfreut sich bester Gesundheit. Wo ist der Garagenschlüssel?' Ich sagte 'Der hängt da am Brett.' 'Zeigen sie uns den mal - er hängt nicht! Wo ist ihr Fernglas, ihr Fotoapparat, ihr Atlas?' Ich musste an den Schreibtisch meines Mannes und es fehlten tatsächlich Fernglas, Fotoapparat und Atlas."

Ingrid Gerber bekommt keine Auskunft über ihren Mann. Am nächsten Morgen muss sie sich bei der Polizei in der Rostocker Ulmenstraße melden, wird vernommen und gegen 13 Uhr zurück in ihre Wohnung gebracht. Stundenlang durchsuchen Stasi-Männer die Wohnung, den Keller und die Garage. Als Zeugen sind zwei Nachbarinnen dabei. Tochter Stefanie kommt gerade aus der Schule: "Ich kam in die Wohnung und alles lag komplett durcheinander. Meine Oma hat nur noch geweint. Irgendwelche Männer standen in der Wohnung und räumten alles aus. Das konnte ich als Kind natürlich überhaupt nicht begreifen. Ich wurde dann rausgebracht und bin mit meinem Opa auf den Spielplatz gegangen. Er war sehr bedrückt. Keiner hat mir in dem Moment gesagt, was passiert ist. Ich wusste nur, irgendwas ist mit meinem Vater. Der ist nicht nach Hause gekommen. Es hat mich an diese Sendung 'XY ungelöst' erinnert. Als Kind bekommt man da, glaube ich, noch mehr Angst als ein Erwachsener."

Die Staatssicherheit beschlagnahmt an diesem Tag insgesamt 57 Gegenstände: Schläuche, Kupferkabel, Briefe und Gummimatten, alles was mit dem U-Boot-Bau in Zusammenhang steht. Die Grube in der Garage bleibt zunächst unentdeckt. Sie wird - genauso wie die Konstruktionsunterlagen des U-Bootes - erst am nächsten Tag bei der zweiten Durchsuchung gefunden.

Gerber wird misshandelt und gedemütigt

Walter Gerber ist inzwischen von Pirna nach Dresden verlegt worden. Dort wird er stundenlang verhört und in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1980 in einem Barkas nach Rostock gebracht - gefesselt, in gebückter Haltung, mit verbundenen Augen: "So wurde mein Mann abtransportiert. Und man hat ihm nicht gesagt, was man mit ihm vor hat und wo er hinkommt. Er ist die ganze Nacht gefahren worden und ist in Rostock in der U-Haft im Grünweg gelandet. Er war total übernächtigt, seelisch und körperlich so am Ende, dass er damals gedacht hat, das wäre sein Ende. Er musste sich von allen Kleidungsstücken trennen und wurde unter eine eiskalte Dusche gestellt. Dann wurde er auf eine menschenunwürdige Art untersucht ... das mag ich gar nicht sagen ... an Körperstellen, an denen man sich das gar nicht vorstellen mag."

Sechs Monate lang sitzt Walter Gerber in Rostock in U-Haft. Weil man bei den Wohnungsdurchsuchungen 500 D-Mark gefunden hatte, verbreitet sich das Gerücht, er sei ein westlicher Spion. Freunde und Verwandte ziehen sich von den Gerbers zurück.

Mitschüler grenzen Tochter Stefanie aus

Sippenhaft auch für die Tochter in der Schule: "Es gab immer so was wie einen Klassensprecher, der nannte sich Gruppenratsvorsitzender. Ich kann mich erinnern, dass ich das werden sollte. Die Lehrerin sagte dann zu den Schülern, dass das nicht ginge. Steffi könne das nicht werden. Als die fragten, warum das denn nicht ginge, sagte sie, das würde sie später erklären. Kinder können untereinander ja sehr brutal sein. Es war für mich damals fast unerträglich, als ich ständig gefragt wurde 'Wo ist dein Vater? Der ist doch im Gefängnis, sag' das doch, gib das doch zu!' 'Wie kannst du überhaupt noch in die Schule kommen?' Das kann man gar nicht nachvollziehen und begreifen. Andere Kinder haben sich von mir abgewendet. Da haben bestimmt die Eltern gesagt 'Da sei mal vorsichtig, mit der spiel' mal besser nicht.' Viele Eltern haben bestimmt geglaubt, mein Vater ist ein Verbrecher - für viele war es ein Verbrechen, das Land zu verlassen. Ich kann das heute auch nachvollziehen, dass die ihren Kindern gesagt haben, 'Mit der spiel' mal bitte nicht!', ich habe da keine Hassgefühle."

Reaktionen von Kollegen und Vorgesetzten

Die Stasi durchsucht den Arbeitsplatz und dreimal die Wohnung der Gerbers. Am Arbeitsplatz beschlagnahmt sie ein Taschenbuch mit dem Titel "Der Seeweg nach Indien". Gerbers Vorgesetzter Dierk Schröder muss eine Beurteilung schreiben: "Für mich war er immer ein fachlich versierter Mitarbeiter; nach meinem Ermessen etwas eigenwillig, aber trotzdem ein guter Kollege. So fiel auch meine Beurteilung aus. Damit waren die Vorgesetzten gar nicht einverstanden. Die erwarteten von uns, dass wir uns vom Verhalten Walter Gerbers distanzierten. Das konnten wir nicht. Ich bin bei meiner Beurteilung geblieben. Also - so ein U-Boot alleine zu entwerfen, zu bauen und zu erproben und es dann auch zu benutzen - wir haben ihn dafür schon bewundert."

Hilfe bekommt Ingrid Gerber von den Arbeitskollegen ihres Mannes jedoch nicht. Ihr Vater hatte durch die Aufregung einen Schlaganfall erlitten, sie selbst wartet mit Bangen, aber auch mit Hoffnung auf den Tag der Gerichtsverhandlung: "Ich habe einfach nicht geglaubt, dass man meinen Mann verurteilt. Er war so tüchtig in seinem Beruf, ich habe gedacht, dass man das doch nicht einfach vergessen kann. Außerdem war für ihn nicht seine Heimat, die er geliebt hat, der Grund für die Flucht, sondern die Staatssicherheit. Viele wussten das und haben ihn als Menschen trotzdem fallen lassen. Das habe ich nicht für möglich gehalten."

Unterstützung von der Kirchengemeinde

Doch es gibt auch Unterstützung. Zum Beispiel vom Pastor der Rostocker Südstadtgemeinde und von Leuten aus dem dortigen Kirchenkreis. Sie kennen Ingrid Gerber, die regelmäßig zum Gottesdienst geht. Pastor Schnauer begleitet sie auch zur Gerichtsverhandlung ihres Mannes am 23. März 1981. An diesem Tag wird die Tochter Stefanie zehn Jahre alt: "Es wurden immer wichtige Daten genommen, um zu zeigen, wir sind immer bei euch. Damit war mein Geburtstag auch vorbei. Ich weiß noch, dass ich einen blauen Füller bekommen habe. Der ganze Tag war schrecklich, weil alle zu Hause saßen und darauf gewartet haben, dass meine Mutter wieder kommt. Das war natürlich kein schöner Geburtstag, und als Kind bekommt man das noch anders mit. Man merkt, wie die Erwachsenen krampfhaft versuchen, es einem doch noch irgendwie schön zu machen. Gedanklich sind sie ganz woanders."

Frau Gerber erinnert sich an den Verhandlungstermin: "Als mein Mann bewacht und mit Knebelketten gefesselt reingeführt wurde, ging ich auf ihn zu, aber ich wurde abgehalten. Sie sagten ihm, dass man von der Schusswaffe Gebrauch machen würde, wenn er versuchen würde zu fliehen. Wir haben dann erlebt, wie mein Mann behandelt worden ist: Der Vertreter von Rechtsanwalt Vogel, Herr Tissen-Husen, und Staatsanwalt Herr Gabe saßen beide mit dem Rücken zu meinem Mann. Vor ihm saß Richterin Unger, die ihn anschrie, ob er nicht für den Frieden sei. Dann hatte sich die Richterin so weit gefasst, dass sie eine Bestimmung vorlas, und wir wurden aus dem Saal entfernt."

Das Urteil

Walter Gerber wird nach zwei Verhandlungstagen vom Kreisgericht Rostock wegen mehrfach versuchter Republikflucht zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Sein Wartburg, das U-Boot und 160 bei den Hausdurchsuchungen beschlagnahmte Sachen werden entschädigungslos eingezogen, darunter sein Führerschein und der Pkw-Anhänger. Gerber habe mit besonderer Intensität gehandelt und Verrat an der Deutschen Demokratischen Republik verübt, heißt es in der Urteilsbegründung:

"Seine Entschlussfassung, die DDR illegal zu verlassen, entspricht seiner kleinbürgerlich-egoistischen Haltung ... Die Vorbereitungs- und Versuchshandlungen des illegalen Verlassens der DDR sind in erheblichem Maße gesellschaftsgefährlich und beeinträchtigen die berechtigten Schutzinteressen unserer Gesellschaft in großem Maße. Hartnäckig und zielgerichtet versuchte der Angeklagte sein Vorhaben zu verwirklichen und handelte äußerst verantwortungslos."

Im Urteil steht kein Wort über die Staatssicherheit. Kein Wort von den seelischen Konflikten, in die Walter Gerber gebracht wurde. Der Ingenieur kommt in die Haftanstalt Cottbus. Seine Frau darf ihn alle zwei Monate besuchen: "Wir saßen uns ungefähr fünf Meter entfernt gegenüber. Es war kein Flüsterton möglich. Wir wurden immer streng bewacht. Er hatte einen Anzug an, der mich an die Hitlerzeit erinnert hat: braun mit gelben Streifen. Er wurde nicht mit Gerber oder mit Herr angesprochen, er war nur noch eine Nummer."

Trost und Hilfe bekommt Ingrid Gerber von dem Cottbuser Pastorenehepaar Armin und Johanna Schötz. Bei ihnen kann sie wohnen, wenn sie ihren Mann besucht. Denn die Reise ist an einem Tag nicht zu schaffen: Hin- und Rückfahrt dauern 19 Stunden.

Mit Gewaltverbrechern in einer Zelle

Im Cottbuser Knast sind überwiegend politische Gefangene inhaftiert, aber auch Kindermörder und andere Gewaltverbrecher. Sie liegen zusammen mit den Politischen in einer Zelle, sagt Stefanie Gerber: "Man hat das bewusst gemacht, dass man politische Häftlinge mit Primitiven zusammengelegt hat, damit sie noch mehr darunter leiden und sich gegenseitig nicht unterstützen können. Wenn er später darüber gesprochen hat, waren das immer schreckliche Geschichten. Zwar keine Folter und Qual im wörtlichen Sinne, aber eingepfercht in einem winzig kleinen Raum als einziger Nichtraucher unter Rauchern. Oder typische Gefängnissitten: Wenn ein neuer Häftling kam, haben sich die Älteren auf ihn gestürzt und Dinge gemacht, die man sich nicht vorstellen möchte."

Walter Gerber lernt englische Vokabeln, um geistig fit zu bleiben und später im Westen beruflich besser Anschluss zu finden. Denn er will noch immer in die Bundesrepublik. Der Ingenieur entwickelt eine Geheimschrift, um in seinen Briefen nicht nur über das Wetter und andere Banalitäten schreiben zu können. Zur Unterstützung der Familie schickt er monatlich 60 Mark nach Rostock. Das Geld verdient Gerber mit gesundheitsschädlicher Arbeit im Gefängnis, erinnert sich Hans Dieter Junge. Junge saß damals auch wegen versuchter Republikflucht in Cottbus: "Er hat aus Sprelakat, ein Phenolkunststoff, Buchsen gedreht. Die waren Ersatzteile für Partys. Das hat er den ganzen Tag gemacht. Wir haben zu ihm gesagt, er soll das Zeug nicht einatmen und nicht so nah mit der Nase dran gehen, denn beim Drehen staubt das Sprelakat mächtig, und das ist krebserregend."

Bundesrepublik kauft Gerber frei

Nach vier Jahren wird Walter Gerber entlassen, sechs Monate vor Ende der Haftzeit. Der Grund: Die Bundesrepublik kauft den politischen Häftling für 90000 D-Mark frei. Im Oktober 1984 kommt er nach Lübeck und findet dort eine Anstellung an der Universität. Seine Familie versucht nun - vertrauend auf das Abkommen von Helsinki - nachzukommen:

"Das war eine schwierige Zeit, weil meine Mutter immer noch zu den Ausreisebehörden musste. Sie wurde eingeladen und musste sagen, warum sie das will, musste Formulare abgeben und hatte selbst kaum Zeit zu packen. An dem Tag als die Möbelpacker kamen, wollten sie die Sachen nicht einpacken. Ich wollte unbedingt Möbel von meinen Großeltern mitnehmen. Die haben sich geweigert, sie einzupacken, weil sie ihnen zu schwer waren. Ich saß dann auf dem Tisch meiner Großmutter, habe geweint und gesagt, 'Ich will, dass diese Möbel mitkommen!'"

Ein paar Möbel können die Gerbers mit in den Westen nehmen. Ihre Ausreise ist inzwischen genehmigt. Am 21. Dezember 1984 sitzen Ingrid und Stefanie Gerber zusammen mit der Großmutter im Zug nach Lübeck. Sie verlassen das Land ohne einen Pfennig.

Wiedersehen in Lübeck

"Ich weiß noch genau, dass an der Grenze Kontrollen kamen. Wir hatten Angst, dass jetzt doch alles nicht klappt und wir nicht ausreisen dürfen", erinnert sich Stefanie. "Als der Zug in Lübeck einfuhr ... schon diese Ansage 'Hauptbahnhof Lübeck' war wie eine Erlösung", erzählt ihre Mutter. "Wir guckten auf den beleuchteten Bahnsteig und sahen meinen Mann mit einem Blumenstrauß winken. Er kam auf uns zu, und dann haben wir uns in den Armen gelegen. Worte haben wir zuerst gar nicht gefunden. Wir haben uns alle gedrückt, die Tränen liefen." Stefanie konnte es kaum begreifen, ihren Vater nach vier Jahren wiederzusehen: "Im ersten Moment waren wir uns wahrscheinlich fremd. Ich erinnere mich, dass ich den Blumenladen auf dem Bahnhof gesehen habe und es gar nicht glauben konnte, dass da überall bunte Blumen standen, obwohl Dezember war. Zu meinem ersten Weihnachtsfest in Lübeck habe ich sechs grüne Äpfel bekommen, weil ich die unbedingt haben wollte. Außerdem hatte ich von der Diakonie einen Gutschein für eine Hose bekommen. Das war das schönste Weihnachtsfest, weil wir wieder alle zusammen feiern konnten."

Doch der Alltag holt die Familie schnell wieder ein, Stefanie geht zur Schule, der Vater zur Arbeit und Ingrid Gerber pflegt die an Alzheimer erkrankte Großmutter: "Jeder von uns hatte sich gewünscht, in Ruhe wieder zueinander zu finden und das Leben ganz anders anzugehen. Mein Mann musste zu seiner Anstellung an der Uni. Natürlich haben wir uns sehr darüber gefreut, dass er die Stelle bekommen hat, aber es blieb ihm keine Zeit, sich zu erholen. Das war für uns drei bitter. Es blieb ganz viel auf der Strecke."

Die Staatssicherheit beobachtet Walter Gerber auch in der Bundesrepublik. Das geht aus seiner 900-seitigen Akte hervor, die er Anfang der 90er Jahre einsieht. Gerbers Angst vor Verfolgung ist nicht unbegründet: "Mein Vater kam nach Hause und erzählte, es habe ihn fast ein Laster überrollt. Der habe gar nicht reagiert, obwohl er mitten auf der Straße gestanden und grün gehabt hätte. Mein Vater war bestimmt niemand, der sich etwas einbildete oder unter Verfolgungswahn litt. Aber er hatte immer so ein Gefühl. Im Nachhinein wissen wir, dass es wirklich so gewesen ist. Zum Beispiel ist er wegen seiner gesundheitlichen Probleme zur Kur gekommen. In den Stasiunterlagen haben wir später gelesen, dass man jemanden dorthin geschickt hat, um ihn zu beobachten."

Diagnose Hirntumor

Im Herbst 1995 existieren DDR und Staatssicherheit nicht mehr. Die Vergangenheit scheint Walter Gerber wieder einzuholen; dieses Mal jedoch ungleich härter: An einem ganz normalen Tag verliert Walter Gerber das Bewusstsein, als er mit Kollegen vom Mittagessen kommt. Die Ärzte finden keine Ursache. Einige Wochen später wird er erneut bewusstlos, man untersucht ihn genauer und diagnostiziert einen Gehirntumor.

Sofort denkt Walter Gerber an seine U-Haft in Rostock: "Mein Vater erzählte aus der Zeit der Untersuchungshaft immer, dass sein schlimmstes Erlebnis war, als er in einen Raum geschlossen wurde, in dem er sich auf einen Stuhl setzen musste. Man sagte ihm, das sei der Fotoraum, in dem die Akte für ihn angelegt werden sollte. Die Angestellten verließen diesen Raum ..." Frau Gerber erzählt weiter: "Es wurde ihm gesagt, er hätte dort ganz still zu verharren. Es wurden Lampen auf ihn gerichtet, Knöpfe gedrückt und der Stuhl um 90 Grad gedreht." "Er hatte immer das Gefühl, gleich ginge unter ihm eine Tür auf und er würde für immer verschwinden", ergänzt Stefanie. "Er wusste, dass irgendetwas mit ihm passiert, konnte das aber nicht näher definieren. Er hatte sehr starke Angst in dem Moment, den er im Nachhinein bei seinen Erzählungen immer als besonders schlimm herausgestellt hat." Walter Gerber wusste, dass das, was da passierte, nicht normal war. Heute vermutet man, dass man politische Häftlinge damals mit Röntgenstrahlen bestrahlt hat. Ganz genau geht das aus den Stasiunterlagen aber nicht hervor.

Walter Gerber stirbt - Folge der U-Haft?

Nach drei Operationen, einer erfolglosen Strahlen- und einer Chemotherapie stirbt Walter Gerber am 17. Juni 1998. Seine Frau versucht in der Folgezeit, Beweise für eine Verstrahlung ihres Mannes zu finden. Der langjährige Freund der Familie, Ulrich Chill, unterstützt sie dabei. Chill arbeitet mittlerweile im Schweriner Sozialministerium, Abteilung Strahlenschutz und Gerätesicherheit in der Medizin. Er lässt den im Rostocker Gefängnis gefundenen Röntgenapparat testen: "Ich habe die Dosisleistung des Gerätes DE36 mit einem Sachverständigen untersucht und festgestellt, dass die Anlage einen Menschen nicht körperlich schädigen kann. Ich weiß nicht, warum man das gemacht hat - vielleicht, um andere Versuche zu machen."

Weil auch in anderen Stasi-Gefängnissen Röntgengeräte gefunden wurden und Häftlinge erzählen, sie seien verstrahlt worden, ermitteln Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt. Unterstützt werden sie vom Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen in Mecklenburg-Vorpommern, Jörn Mothes. Er bestätigt Chills Gutachten: "Es hat berechtigterweise immer wieder zu Spekulationen geführt, dass viele politische Häftlinge an verschiedenen, zum Teil seltenen Tumorarten erkrankt sind. Für die Röntgengeräte, die man noch finden konnte, kann ich schon aus technischen Gründen ausschließen, dass die eingesetzt worden sein könnten, um Tumore bei Häftlingen auszulösen. Ich weiß, dass dazu ermittelt worden ist. Sie müssen aber bedenken, dass Sie einen Anfangsverdacht nur dann haben, wenn Sie sowohl den Zeitpunkt als auch die Person, die das Röntgengerät missbräuchlich verwendet hat, konkret beschreiben können. Diesen Beweis zu erbringen, ist nahezu unmöglich."

Einstellung des Verfahrens aus Magel an Beweisen

Die Ermittlungen im Fall Gerber werden im Juli 2000 ergebnislos eingestellt. Ungeklärt bleibt auch, wohin das U-Boot nach der Gerichtsverhandlung kam. Bis heute ist es verschollen. Die Ermittlungen von Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt führen zu einer anderen überraschenden Erkenntnis: Die Staatssicherheit arbeitete mit radioaktiven Substanzen. Sie steckte zum Beispiel Personen radioaktive Nadeln in die Kleidung, um sie so leichter orten zu können. Ob Walter Gerber radioaktiven Strahlen ausgesetzt war - auch dafür gibt es keinen Beweis.

Ingrid Gerber lebt heute in Lübeck: "Es ist eine Ohnmacht in mir, eine grenzenlose Leere. Und ein Unverständnis denen gegenüber, die sich zu DDR-Zeiten haben missbrauchen lassen. Ich hasse diese Menschen, die meinem Mann so Unrecht getan und ihn so gebeugt haben. Ich kann ihnen nichts antun, aber ich hasse und verachte sie." Ihre Tochter Stefanie fühlt sich ohnmächtig, empfindet aber keinen Hass:"Bei mir persönlich ist es so, dass ich versuche, das zu verdrängen, um damit fertig zu werden. Das ist bestimmt nicht der beste Weg. Das Ganze hat mich sehr geprägt, und ich bin sensibler für politische Hintergründe und versteckte Zusammenhänge. Ich setzte mich intensiv mit politischen Systemen auseinander, trotzdem denke ich nicht jeden Tag darüber nach, was uns passiert ist. Dafür gucke ich zu sehr nach vorne. Ich freue mich auf all das, was da kommt. Wenn ich zurück gucke, denke ich auch nicht, wie schrecklich war das alles - es gab auch schöne Momente." Heute wünscht sich Stefanie Gerber eine intensivere Auseinandersetzung mit der DDR. Die Geschichte ihres Vaters gehört dazu.

Autor: Bert Lingnau

Quelle:ndr.radio


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen