Freitag, 20. November 2009

Wir wollen raus! - Fluchtgeschichten Teil 6 - Massenflucht durch den Tunnel 57


Das hastig und ängstliche geflüsterte Codewort "Tokio" war der Schlüsselbegriff des erfolgreichsten Fluchttunnelprojektes im Kalten Krieg - die Parole zum Einstieg in die Freiheit. Zwischen dem 3. und 5. Oktober 1964 robbten und krochen 57 Menschen unterirdisch von Ost nach West - 10 Meter unter der Erde und vor allem unter der Mauer. 30 Studenten hatten diesen 145 Meter langen Stollen gegraben.

Einer von ihnen war Dr. Peter Schulenburg (70), damals ein 24-jähriger Jura-Student. "Solange sie stand, habe ich die Mauer als ein gravierendes Unrecht empfunden", sagt er heute. "Deutschland war für mich eins." Mit dieser Motivation beteiligt sich Schulenburg an verschiedenen Tunnelbauten - aus Idealismus, ohne finanzielle Interessen, genau so, wie alle seine Mitstreiter. "Na ja," sagt er heute und schmunzelt. "Etwas Abenteuerlust war natürlich auch dabei." Angeworben wird Schulenburg durch einen Kommilitonen. Das Unternehmen ist perfekt geplant. Wolfgang Fuchs, Kopf der Gruppe, mietet eine leer stehende Bäckerei in der Bernauer Straße 97 an. Dort beginnen die Männer zu graben. 90 Zentimeter hoch, 80 Zentimeter breit ist der Stollen. "Wir haben auf dem Rücken gelegen und den Spaten mit den Füßen in den harten Boden gestoßen. Das war Knochenarbeit", erinnert sich Schulenburg. Sie schaffen nur wenige Meter am Tag.

"Wir gruben über Kopf. Das war Knochenarbeit."

Die Erde wird in den Räumen der Bäckerei gelagert. Tagelang tauchen Schulenburg und seine Freunde in die unterirdische Welt ab. "Das Schwierigste war, immer Ausreden für meine Freundin zu erfinden. Sie durfte nichts davon wissen, es war ja alles höchst konspirativ."

CDU-nahe Kreise finanzieren das Unternehmen. Am 3. Oktober - nach einem halben Jahr Bauzeit - gelingt der Durchbruch - im Toilettenhäuschen auf dem Hinterhof des Hauses Strelitzer Straße 55. Kuriere überbringen die Nachricht an die, die fliehen wollen. 200 standen auf der Warteliste, weiß man heute. Genau im richtigen Augenblick und ohne Gepäck, um kein Aufsehen zu erregen, kommen die Menschen ins Haus in der Strelitzer Straße 55 und gelangen in die Freiheit - zitternd, schmutzig, glücklich.

Doch schon am 5. Oktober um 0.07 Uhr erscheinen DDR-Soldaten - der Tunnel ist aufgeflogen. Schüsse knallen. Der DDR-Unteroffizier Egon Schultz wird an der Schulter getroffen - durch eine Kugel aus der Waffe des Fluchthelfers Christian Zobel. Er stürzt zu Boden und wird erneut getroffen, diesmal tödlich - die Kugeln stammen aus der Waffe eines anderen Soldaten. Das belegt der gerichtsmedizinische Obduktionsbericht. Doch die DDR-Propaganda ignoriert die Wahrheit, macht eine ganz andere Geschichte daraus. "West-Berliner Frontstadtbanditen" hätten Schultz "meuchlings ermordet", meldet die Ost-Berliner Nachrichtenagentur.

Egon Schultz wird zum Staatshelden. Schulen, Kinder- und Ferienheime werden nach ihm benannt, die Strelitzer Straße wird in Egon-Schultz-Straße umbenannt, vor dem Haus Nummer 55 finden Aufmärsche statt.

Die Lüge vom gemeuchelten DDR-Soldaten

Erst mit Öffnung der Akten Anfang der 90er-Jahre kommt die Wahrheit ans Licht. Christian Zobel war da bereits tot - gestorben in dem Glauben, einen Menschen getötet zu haben.

Peter Schulenburg arbeitet auch nach Entdeckung des Tunnels weiter als Kurier, reist immer wieder nach Ost-Berlin. Am 25. Februar 1965 wird er von der Stasi am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße erwartet und verhaftet. Das Regime macht ihm den Prozess. Urteil: sechs Jahre Haft wegen "Verleitung zur Republikflucht in Tateinheit mit staatsgefährdenden Gewaltakten". Er kommt ins Zuchthaus nach Brandenburg. "Sehr bedrückend", erinnert er sich, "war diese Zeit". Doch seine Freunde im Westen lassen ihn nicht fallen und erwirken im Rahmen eines Gefangenenaustausches seine Freilassung. Er kehrt nach West-Berlin zurück, wo er bis heute als Anwalt arbeitet. Sein Fazit: "Es war hoch riskant, was wir taten. Dass wir aber das Richtige getan haben, davon bin ich heute noch überzeugt."

Quelle:bz-berlin.de

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