Sonnabend, 23. März 1963
Ich hatte "klar Schiff" gemacht und wichtige Dinge (Zeugnisse, Ausweispapiere) eingepackt. Ich zog meine Lederoljacke an und war fertig. Meine Freundin war ebenfalls gerüstet. Wir verabschiedeten uns ins Wochenende und verließen das Internat.
Der Abschiedsschmerz hielt sich dabei in Grenzen.
So langsam befiel uns so etwas wie Lampenfieber. Oder war es Angst? Beklemmend war es auf jeden Fall. Was wir vorhatten, war nicht ungefährlich. Würde alles gut gehen? Wir machten uns auf in Richtung meines Heimatortes Probstzella, sprich: Richtung Grenze. Wir hatten noch Zeit, erst am frühen Abend wollten wir uns an einem verabredeten Platz mit meinem Schlosserfreund Lothar treffen. Lothar wusste, wie es im Westen aussah, denn er war bereits 1962 "getürmt", aber auf Betreiben seiner Eltern bald darauf wieder in die DDR zurückgekehrt.
Gefährliche Grenzhelfer
Wir gingen die gesamte Strecke zu Fuß, denn in Bahn oder Bus wären wir kontrolliert worden. Für mich wäre das kein Problem gewesen, aber Karin hatte keinen Passierschein für die Fünf-Kilometer-Sperrzone und hätte auch keinen bekommen. So war sie auch noch nie bei mir zu Hause gewesen.
Die Waldwege, die wir entlang wanderten, waren mir von Fahrradexkursionen her gut bekannt. Kontrollen gab es da so gut wie keine. Nur ein zufällig auftauchender freiwilliger Grenzhelfer - ein Einheimischer - hätte uns gefährlich werden können. Denn die Bewohner der grenznahen Gegenden waren gehalten, fremde Personen zu melden.
Ich vertraute auf meine Ortskenntnis und darauf, dass wir uns auch dann schon irgendwie würden herausreden können, wenn sich jemand für uns interessierte. Immerhin hatte ich einen Passierschein und brachte nun eben mal meine Freundin am Wochenende mit nach Hause. Na ja, ohne zweiten Passierschein war das verboten, aber wir waren ja spontane junge Menschen voller Initiative, deren Zeit einfach nicht gereicht hatte, sich um alle Formalitäten zu kümmern.
"Hat sie einen Passierschein?"
Wir kamen viel zu früh in der Nähe meines Dorfes an. Wo die stationären Kontrollhäuschen waren, wusste ich. Da machten wir einen weiten Bogen drum. Wir saßen eine Weile im Wald herum, wäre es Sommer gewesen, hätten wir es mehr genießen können. Der Zeitpunkt, zu dem wir Lothar treffen wollten, rückte näher. Er wollte am verabredeten Ort mit seinem Motorrad, einer alten NSU, erscheinen. Wir fingen an, auf Motorengeräusche zu achten. Nichts zu hören.
Nach einer langen Weile immer noch nichts. Irgendwann hörten wir, dass sich jemand zu Fuß näherte. Wir äugten aus dem Wald heraus, es war Lothar. Seine Maschine war nicht angesprungen, lange Basteleien wollte er nicht veranstalten, also kam er zu Fuß. Zunächst war er etwas irritiert darüber, dass ich jemanden mitgebracht hatte, akzeptierte aber bald, dass wir uns eben zu dritt strafbar machen würden. Den Gedanken daran, dass uns Schlimmeres passieren könnte, verdrängten wir wieder. Also, auf ins Dorf, kurz durchs Dorf hindurch und Richtung Nachbardorf. Zu dritt, davon zwei Einheimische, allen bekannt, das schien kein Risiko zu sein. Wir wurden auch nicht weiter beachtet. Ein ehemaliger Klassenkamerad aus Grundschulzeiten kam uns entgegen und freute sich, uns zu treffen. Wir erzählten ihm, dass Karin zu Besuch bei mir sei.
"Hat sie denn einen Passierschein bekommen?" Wir bejahten, ohne dieser Frage weiter nachzugehen. Was wir denn noch so vorhätten? Offensichtlich war ihm langweilig. Uns war nicht langweilig und irgendwie mussten wir ihn wieder loswerden. Wir erzählten also, dass wir erst einmal noch nach Hause müssten und verabredeten uns mit ihm für den späteren Abend. Etwas zweifelnd merkte er sich den Termin.
Schutz vor dem Klassenfeind
Die Dämmerung hatte eingesetzt, wir gingen auf der Straße ins Nachbardorf. Links neben der Straße befanden sich Bahngleise, hinter den Gleisen stieg eine Wiese an bis zum Wald. Dort oben im Wald war die Grenze. Hier auf der Straße hätten wir immer noch Ausreden parat gehabt, denn auch im Nachbardorf gab es Kneipen und ehemalige Klassenkameraden, die man eben hätte besuchen wollen.
Abseits der Straße, nach Überqueren der Gleise, wären wir mit solchen Ausreden nicht mehr erfolgreich gewesen. Hier begann die sogenannte 500-Meter-Zone, in der sich sogar Einheimische nicht mehr aufhalten durften, es sei denn unter militärischer Bewachung. Bauern, deren Felder teilweise in dieser Zone lagen, wurden während ihrer Feldarbeit vor dem Klassenfeind beschützt und man passte auch auf, dass sie nicht wegliefen. Es schien uns sicherer zu sein, so wenig wie möglich von uns sichtbar werden zu lassen.
Wir schmissen uns auf die Bäuche, jeder auf seinen, und robbten hangaufwärts, Büsche als Deckung nutzend, lauschend, witternd, aufgeregt. Die vormilitärische Ausbildung durch die GST (Gesellschaft für Sport und Technik) kam uns zupass. Wir hatten gelernt, wie man sich auf dem Bauch robbend bewegt und wir hatten gelernt, leise zu sein. Wir waren Kundschafter in eigener Sache. Einige Male fuhr auf der Straße ein Auto vorbei, die Scheinwerfer leuchteten vage den Hang mit aus, wenn der Fahrer durch die wenigen Kurven fuhr. Wir lagen dann jeweils ganz still und ich war froh, eine schwarze Lederoljacke anzuhaben. Auch die beiden anderen trugen dunkle Kleidung.
Stolperdraht im Wald
Bald waren wir auch von der Straße aus nicht mehr zu erkennen. Der Waldrand kam näher, jetzt mussten wir unser Augen- und Ohrenmerk mehr dorthin richten. Am Waldrand saßen die Grenzer gern und beobachteten. Es gab wohl auch Unterstände, die man nicht leicht erkennen konnte. Wir registrierten die erstaunlichsten Geräusche. Ein Zug und selbst Geschrei von weit her war zu hören, galt aber erkennbar nicht uns. Es war dunkel geworden und wir mussten uns umso mehr auf unsere Ohren verlassen.
Irgendwann hörten wir etwas, was nicht schön klang: Ein Hund hechelte, es hörte sich an, als zöge er eifrig an der Leine und würde zurückgehalten. Wie weit das weg war, konnten wir nicht einschätzen. Die Nacht trug Geräusche weit durch das Tal und auch den Hang hinauf. Wir verstreuten Pfeffer um uns herum. Schön war die Vorstellung nicht, dass so ein Schäferhundvieh geifernd vor mir auftauchen könnte. Machen konnte man aber sonst nichts. Irgendwann war es wieder ruhig, wir robbten weiter bergauf. Zentimeter um Zentimeter näherten wir uns dem Waldrand, im Wald war es leichter, da konnte man aufstehen, sich auch besser verbergen.
Lothar machte plötzlich Zeichen mit seinen Händen, wir krochen zu ihm. Vor ihm, in etwa 20 Zentimeter Höhe, verlief ein Draht. Er war sehr dünn und wäre von einem Fußgänger nicht auszumachen gewesen. Wären wir nicht gerobbt und hätten den Draht nicht gesehen, wären wir wahrscheinlich hineingelaufen und hätten Alarm ausgelöst, stillen Alarm, vielleicht auch Signalraketen. Wir stiegen über den Draht und machten uns untereinander klar, dass wir gründlich Ausschau halten sollten, bevor wir den Wald erreichten. Richtig, wir machten einen weiteren Stolperdraht aus. Wie die Störche im Salat traten wir danach in den Wald. Gar nicht so dumm, diese Signaldrähte kurz vor dem Wald zu spannen. Der Impuls, schon etwas vorher aufzustehen und schnell in den Wald zu rennen, war groß. Gut gegangen wäre das nicht.
Auf dem Todesstreifen
Im Wald war es angenehmer, solange man ruhig herumstand. Gingen wir langsam hangaufwärts, bemerkten wir, was für einen Krach wir da eigentlich veranstalteten. Es kam uns vor, als knackte und krachte bei jedem Schritt ein Ast unter den Füßen. Vorsichtig ging es weiter. Gegen 21 Uhr hatten wir die 500-Meter-Zone betreten, inzwischen war es etwa 23 Uhr.
Vor uns war etwas zu erspähen. Eine kleine Lichtung im Wald. Ein lichter Streifen, eher. DER Streifen. Der Todestreifen. Auf jeder Seite des Streifens, ca. fünf bis sechs Meter entfernt, war ein Stacheldrahtzaun zu sehen. Betonpfähle. Das schauten wir uns genauer an. Ohne Zweifel, wir waren am sogenannten doppelten Grenzzaun.
Was wir noch sehen konnten, war aufregender. Circa 50 Meter rechts von uns war ein hölzerner Wachturm. In der kleinen Hütte auf dem Turm erkannte man ein Fenster. Es war dunkel. Das beobachteten wir eine lange Zeit, keine Bewegung war wahrzunehmen. Kein Wachtposten machte da oben Geräusche, Zigarettenglut sahen wir auch nicht. Alles deutete darauf hin, dass der Turm unbesetzt war.
Abschied von Jacke und Republik
Nachdem sich etwa 15 Minuten rings um uns nichts bewegt hatte, schlichen wir auf den ersten Zaun zu. Lothar hatte den Seitenschneider parat und knipste damit die beiden unteren Drahtreihen durch. Wir bogen die Drahtenden nach rechts und links weg, hielten sie auseinander. Meiner Freundin ließen wir den Vortritt, höflich, wie man uns das beigebracht hatte. Sie sollte am zweiten Zaun auf uns warten. Viel anderes blieb ihr auch nicht übrig. Wir zwängten uns nacheinander auch durch die Lücke, halfen uns dabei und gingen vorsichtig zum gegenüberliegenden Zaun, wo Karin kauerte. Erneutes Knipsen, zweite Lücke im Zaun, selbe Reihenfolge. Das Loch im Stacheldraht war etwas zu klein geraten und ich blieb mit meiner Lederol-Jacke hängen. Lederol gegen Stacheldraht, es war wenig verwunderlich, wer da nachgab. Am Rücken spürte ich den Riss, ich konnte auch mit der Hand das Loch im Rücken ertasten. Die Jacke war hin. Ich zog sie aus, viel war nicht in den Taschen, die Dokumente trug ich körpernäher.
Das Lederol hatte auch an den Ärmeln gelitten, für robbende Fortbewegung und Republikfluchten war der Stoff offensichtlich nicht entwickelt worden. Nahm ich nun schon mal Abschied von der DDR, konnte ich auch gleich Abschied von der Jacke nehmen. Ich hängte die Jacke an einen Betonpfeiler und wir gingen weiter westwärts, sprich bergauf. Ich hatte einen schicken Rollkragenpullover an.
Nun befanden wir uns zwar jenseits der Drahtzäune, wussten aber, dass dies noch nicht die eigentliche Grenze war. Die kam erst noch, aber wann? Es kam gar nichts weiter. Wir bewegten uns weiter in die Richtung, die uns richtig erschien. Irgendwann sahen wir ein Schild "HALT! Hier Zonengrenze!" stand auf der Rückseite.
Wir standen mitten im Wald. Wir waren ohne Zweifel im Westen.
Wir hatten es geschafft.
Erst später, beim Bundesgrenzschutz in Ludwigsstadt erfuhren wir, dass wir ein Minenfeld überquert hatten.
Quelle: www.einestages.spiegel.online
Ich hatte "klar Schiff" gemacht und wichtige Dinge (Zeugnisse, Ausweispapiere) eingepackt. Ich zog meine Lederoljacke an und war fertig. Meine Freundin war ebenfalls gerüstet. Wir verabschiedeten uns ins Wochenende und verließen das Internat.
Der Abschiedsschmerz hielt sich dabei in Grenzen.
So langsam befiel uns so etwas wie Lampenfieber. Oder war es Angst? Beklemmend war es auf jeden Fall. Was wir vorhatten, war nicht ungefährlich. Würde alles gut gehen? Wir machten uns auf in Richtung meines Heimatortes Probstzella, sprich: Richtung Grenze. Wir hatten noch Zeit, erst am frühen Abend wollten wir uns an einem verabredeten Platz mit meinem Schlosserfreund Lothar treffen. Lothar wusste, wie es im Westen aussah, denn er war bereits 1962 "getürmt", aber auf Betreiben seiner Eltern bald darauf wieder in die DDR zurückgekehrt.
Gefährliche Grenzhelfer
Wir gingen die gesamte Strecke zu Fuß, denn in Bahn oder Bus wären wir kontrolliert worden. Für mich wäre das kein Problem gewesen, aber Karin hatte keinen Passierschein für die Fünf-Kilometer-Sperrzone und hätte auch keinen bekommen. So war sie auch noch nie bei mir zu Hause gewesen.
Die Waldwege, die wir entlang wanderten, waren mir von Fahrradexkursionen her gut bekannt. Kontrollen gab es da so gut wie keine. Nur ein zufällig auftauchender freiwilliger Grenzhelfer - ein Einheimischer - hätte uns gefährlich werden können. Denn die Bewohner der grenznahen Gegenden waren gehalten, fremde Personen zu melden.
Ich vertraute auf meine Ortskenntnis und darauf, dass wir uns auch dann schon irgendwie würden herausreden können, wenn sich jemand für uns interessierte. Immerhin hatte ich einen Passierschein und brachte nun eben mal meine Freundin am Wochenende mit nach Hause. Na ja, ohne zweiten Passierschein war das verboten, aber wir waren ja spontane junge Menschen voller Initiative, deren Zeit einfach nicht gereicht hatte, sich um alle Formalitäten zu kümmern.
"Hat sie einen Passierschein?"
Wir kamen viel zu früh in der Nähe meines Dorfes an. Wo die stationären Kontrollhäuschen waren, wusste ich. Da machten wir einen weiten Bogen drum. Wir saßen eine Weile im Wald herum, wäre es Sommer gewesen, hätten wir es mehr genießen können. Der Zeitpunkt, zu dem wir Lothar treffen wollten, rückte näher. Er wollte am verabredeten Ort mit seinem Motorrad, einer alten NSU, erscheinen. Wir fingen an, auf Motorengeräusche zu achten. Nichts zu hören.
Nach einer langen Weile immer noch nichts. Irgendwann hörten wir, dass sich jemand zu Fuß näherte. Wir äugten aus dem Wald heraus, es war Lothar. Seine Maschine war nicht angesprungen, lange Basteleien wollte er nicht veranstalten, also kam er zu Fuß. Zunächst war er etwas irritiert darüber, dass ich jemanden mitgebracht hatte, akzeptierte aber bald, dass wir uns eben zu dritt strafbar machen würden. Den Gedanken daran, dass uns Schlimmeres passieren könnte, verdrängten wir wieder. Also, auf ins Dorf, kurz durchs Dorf hindurch und Richtung Nachbardorf. Zu dritt, davon zwei Einheimische, allen bekannt, das schien kein Risiko zu sein. Wir wurden auch nicht weiter beachtet. Ein ehemaliger Klassenkamerad aus Grundschulzeiten kam uns entgegen und freute sich, uns zu treffen. Wir erzählten ihm, dass Karin zu Besuch bei mir sei.
"Hat sie denn einen Passierschein bekommen?" Wir bejahten, ohne dieser Frage weiter nachzugehen. Was wir denn noch so vorhätten? Offensichtlich war ihm langweilig. Uns war nicht langweilig und irgendwie mussten wir ihn wieder loswerden. Wir erzählten also, dass wir erst einmal noch nach Hause müssten und verabredeten uns mit ihm für den späteren Abend. Etwas zweifelnd merkte er sich den Termin.
Schutz vor dem Klassenfeind
Die Dämmerung hatte eingesetzt, wir gingen auf der Straße ins Nachbardorf. Links neben der Straße befanden sich Bahngleise, hinter den Gleisen stieg eine Wiese an bis zum Wald. Dort oben im Wald war die Grenze. Hier auf der Straße hätten wir immer noch Ausreden parat gehabt, denn auch im Nachbardorf gab es Kneipen und ehemalige Klassenkameraden, die man eben hätte besuchen wollen.
Abseits der Straße, nach Überqueren der Gleise, wären wir mit solchen Ausreden nicht mehr erfolgreich gewesen. Hier begann die sogenannte 500-Meter-Zone, in der sich sogar Einheimische nicht mehr aufhalten durften, es sei denn unter militärischer Bewachung. Bauern, deren Felder teilweise in dieser Zone lagen, wurden während ihrer Feldarbeit vor dem Klassenfeind beschützt und man passte auch auf, dass sie nicht wegliefen. Es schien uns sicherer zu sein, so wenig wie möglich von uns sichtbar werden zu lassen.
Wir schmissen uns auf die Bäuche, jeder auf seinen, und robbten hangaufwärts, Büsche als Deckung nutzend, lauschend, witternd, aufgeregt. Die vormilitärische Ausbildung durch die GST (Gesellschaft für Sport und Technik) kam uns zupass. Wir hatten gelernt, wie man sich auf dem Bauch robbend bewegt und wir hatten gelernt, leise zu sein. Wir waren Kundschafter in eigener Sache. Einige Male fuhr auf der Straße ein Auto vorbei, die Scheinwerfer leuchteten vage den Hang mit aus, wenn der Fahrer durch die wenigen Kurven fuhr. Wir lagen dann jeweils ganz still und ich war froh, eine schwarze Lederoljacke anzuhaben. Auch die beiden anderen trugen dunkle Kleidung.
Stolperdraht im Wald
Bald waren wir auch von der Straße aus nicht mehr zu erkennen. Der Waldrand kam näher, jetzt mussten wir unser Augen- und Ohrenmerk mehr dorthin richten. Am Waldrand saßen die Grenzer gern und beobachteten. Es gab wohl auch Unterstände, die man nicht leicht erkennen konnte. Wir registrierten die erstaunlichsten Geräusche. Ein Zug und selbst Geschrei von weit her war zu hören, galt aber erkennbar nicht uns. Es war dunkel geworden und wir mussten uns umso mehr auf unsere Ohren verlassen.
Irgendwann hörten wir etwas, was nicht schön klang: Ein Hund hechelte, es hörte sich an, als zöge er eifrig an der Leine und würde zurückgehalten. Wie weit das weg war, konnten wir nicht einschätzen. Die Nacht trug Geräusche weit durch das Tal und auch den Hang hinauf. Wir verstreuten Pfeffer um uns herum. Schön war die Vorstellung nicht, dass so ein Schäferhundvieh geifernd vor mir auftauchen könnte. Machen konnte man aber sonst nichts. Irgendwann war es wieder ruhig, wir robbten weiter bergauf. Zentimeter um Zentimeter näherten wir uns dem Waldrand, im Wald war es leichter, da konnte man aufstehen, sich auch besser verbergen.
Lothar machte plötzlich Zeichen mit seinen Händen, wir krochen zu ihm. Vor ihm, in etwa 20 Zentimeter Höhe, verlief ein Draht. Er war sehr dünn und wäre von einem Fußgänger nicht auszumachen gewesen. Wären wir nicht gerobbt und hätten den Draht nicht gesehen, wären wir wahrscheinlich hineingelaufen und hätten Alarm ausgelöst, stillen Alarm, vielleicht auch Signalraketen. Wir stiegen über den Draht und machten uns untereinander klar, dass wir gründlich Ausschau halten sollten, bevor wir den Wald erreichten. Richtig, wir machten einen weiteren Stolperdraht aus. Wie die Störche im Salat traten wir danach in den Wald. Gar nicht so dumm, diese Signaldrähte kurz vor dem Wald zu spannen. Der Impuls, schon etwas vorher aufzustehen und schnell in den Wald zu rennen, war groß. Gut gegangen wäre das nicht.
Auf dem Todesstreifen
Im Wald war es angenehmer, solange man ruhig herumstand. Gingen wir langsam hangaufwärts, bemerkten wir, was für einen Krach wir da eigentlich veranstalteten. Es kam uns vor, als knackte und krachte bei jedem Schritt ein Ast unter den Füßen. Vorsichtig ging es weiter. Gegen 21 Uhr hatten wir die 500-Meter-Zone betreten, inzwischen war es etwa 23 Uhr.
Vor uns war etwas zu erspähen. Eine kleine Lichtung im Wald. Ein lichter Streifen, eher. DER Streifen. Der Todestreifen. Auf jeder Seite des Streifens, ca. fünf bis sechs Meter entfernt, war ein Stacheldrahtzaun zu sehen. Betonpfähle. Das schauten wir uns genauer an. Ohne Zweifel, wir waren am sogenannten doppelten Grenzzaun.
Was wir noch sehen konnten, war aufregender. Circa 50 Meter rechts von uns war ein hölzerner Wachturm. In der kleinen Hütte auf dem Turm erkannte man ein Fenster. Es war dunkel. Das beobachteten wir eine lange Zeit, keine Bewegung war wahrzunehmen. Kein Wachtposten machte da oben Geräusche, Zigarettenglut sahen wir auch nicht. Alles deutete darauf hin, dass der Turm unbesetzt war.
Abschied von Jacke und Republik
Nachdem sich etwa 15 Minuten rings um uns nichts bewegt hatte, schlichen wir auf den ersten Zaun zu. Lothar hatte den Seitenschneider parat und knipste damit die beiden unteren Drahtreihen durch. Wir bogen die Drahtenden nach rechts und links weg, hielten sie auseinander. Meiner Freundin ließen wir den Vortritt, höflich, wie man uns das beigebracht hatte. Sie sollte am zweiten Zaun auf uns warten. Viel anderes blieb ihr auch nicht übrig. Wir zwängten uns nacheinander auch durch die Lücke, halfen uns dabei und gingen vorsichtig zum gegenüberliegenden Zaun, wo Karin kauerte. Erneutes Knipsen, zweite Lücke im Zaun, selbe Reihenfolge. Das Loch im Stacheldraht war etwas zu klein geraten und ich blieb mit meiner Lederol-Jacke hängen. Lederol gegen Stacheldraht, es war wenig verwunderlich, wer da nachgab. Am Rücken spürte ich den Riss, ich konnte auch mit der Hand das Loch im Rücken ertasten. Die Jacke war hin. Ich zog sie aus, viel war nicht in den Taschen, die Dokumente trug ich körpernäher.
Das Lederol hatte auch an den Ärmeln gelitten, für robbende Fortbewegung und Republikfluchten war der Stoff offensichtlich nicht entwickelt worden. Nahm ich nun schon mal Abschied von der DDR, konnte ich auch gleich Abschied von der Jacke nehmen. Ich hängte die Jacke an einen Betonpfeiler und wir gingen weiter westwärts, sprich bergauf. Ich hatte einen schicken Rollkragenpullover an.
Nun befanden wir uns zwar jenseits der Drahtzäune, wussten aber, dass dies noch nicht die eigentliche Grenze war. Die kam erst noch, aber wann? Es kam gar nichts weiter. Wir bewegten uns weiter in die Richtung, die uns richtig erschien. Irgendwann sahen wir ein Schild "HALT! Hier Zonengrenze!" stand auf der Rückseite.
Wir standen mitten im Wald. Wir waren ohne Zweifel im Westen.
Wir hatten es geschafft.
Erst später, beim Bundesgrenzschutz in Ludwigsstadt erfuhren wir, dass wir ein Minenfeld überquert hatten.
Quelle: www.einestages.spiegel.online