Freitag, 20. November 2009

Stasiopfer berichten - Teil 10 - Lutz Henske - Die Flucht und der Verlust der Familie


Lutz Henske wohnte früher in Leipzig. Er durchlief die staatlich verordneten Wege des Sozialismus, ging zur Schule und machte sein Abitur. Sein Vater war technischer Leiter der Schwertransportabteilung der Messe Leipzig und der Gartenbauausstellung in Leipzig. Der beschaulichen Kindheit und Jugend des Schülers wurde plötzlich ein Ende gesetzt, denn sein Vater wurde von seiner Sekretärin und seinem Fahrer der Spionage bezichtigt und zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Verfahren und auch das Urteil wurden laut Henske später für ungültig erklärt. Lutz Henske war damals 16 Jahre alt. Für die Familie sei die Verurteilung des Vaters eine materielle, psychische und physische Katastrophe gewesen, berichtet er. Der Jugendliche ging damals zum Gymnasium und hatte das Studium der Medizin als Ziel.

Durch die Verhaftung und Verurteilung seines Vaters wurde Lutz Henske zunächst das Studium verwehrt. Ein Nachbar, ein Dekan an der Leipziger Humboldt Universität, sorgte dafür, dass der junge Mann nach einer zweijährigen Bewährungsfrist zum Medizinstudium an der Leipziger Humboldt Universität, wenn auch unter Auflagen, zugelassen wurde. Er musste Reinigungsarbeiten in einem Labor übernehmen. "Während des Studiums habe ich aus Protest gegen das System Partys in unserem Wochenendhaus gefeiert, mit Westmusik, Lagerfeuer und Freunden", berichtet der Mediziner rückblickend. Er habe gewusst, dass auch Stasi-Angehörige unter den Gästen waren.

Henske war einer der wenigen Mediziner, deren Arbeit das Interesse der DDR-Industrie auf sich zog. Seine Doktorarbeit mit dem Titel "Die wissenschaftliche Anwendung von Medikamenten, im speziellen Placebos" konnte er damals an fünf Firmen verkaufen. Nach dem Studium trat er eine Stelle an der Kinderklinik in Borna an. Natürlich sei auch dies eine Schikane gewesen. Henske: "Denn wer wollte schon nach Borna?" Parteinahe Absolventen hätten in Leipzig ihre ersten Einstellungen erhalten und Lutz Henske machte am Wochenende den "Werksarzt" auf der Baustelle des Kohlekraftwerks "Thierbach".

Ein Bekannter, ein systemkritischer und bekannter Professor in Leipzig, suchte für seine Kinderchirurgie einen Assistenzarzt. Lutz Henske bewarb sich um diese Stelle, und der Leipziger Professor fand einen Weg, dass er den jungen Assistenzarzt wieder nach Leipzig holen konnte. Der junge Arzt konnte hier seine Facharztausbildung im Bereich der Kinderheilkunde beenden. Über das Gesundheitssystem in der DDR berichtet der Arzt im Gespräch mit dem GT: "Das Gesundheitssystem war staatlich gelenkt. An erster Stelle standen die Planzahlen und dann erst der Patient. Wenn man krank war, durfte es nichts mit der Umwelt zu tun haben." In der damaligen DDR habe man "Funktionärskinder" mit Medikamenten aus der "West-Medizin" behandelt, und die Normalbevölkerung habe sich mit den weniger wirksamen Mitteln aus der östlichen Pharmaindustrie begnügen müssen.

1977 heiratete Henske und das Ehepaar bekam einen Sohn. Der Vater des Mediziners reiste nach der Entlassung aus der Haft nach Westdeutschland aus.

1983 bot sich dann auch die Gelegenheit für Lutz Henske, seinen Vater zum 76. Geburtstag zu besuchen. Die Chance zur Flucht bestand und wurde genutzt. Lutz Henske habe damals gehofft, über die Familienzusammenführung auch seine Familie in den Westen holen zu können. Doch es sollte alles ganz anders kommen. Seine Frau hatte mittlerweile eine Beziehung zu einem befreundeten Gynäkologen begonnen. Dieser, laut Henske ein parteiloser Chefarzt und Informant der Stasi, zog kurz nach seiner Flucht bei seiner Frau ein.

"Ich hatte also in diesem Jahr meine Familie, meine Heimat, mein Vermögen, meinen Freundeskreis, einfach alles, verloren", resümiert er diese Zeit. Doch der Staat habe nicht locker gelassen. Straffreiheit, Amnestie und allerlei Annehmlichkeiten seien ihm angeboten worden, wenn er in die DDR zurück gekommen wäre. "Doch auf diesen Handel wollte ich mich nicht einlassen", so Henske. Er heiratete später seine heutige Ehefrau und blieb im Westen. "Es war einfach der Drang, aus dem System herauszukommen. Ich war zwar fleißig und bekannt, aber in meiner Akte stand wie in Stein gemeißelt ,Politischer Gegner`", fasst er zusammen.

In Rodenbach konnte er anschließend eine Kinderarztpraxis übernehmen und bereitete sich auf sein abschließendes "medizinisches Gespräch" vor einem ärztlichen Prüfungsgremium vor. Im Nachhinein habe sich die Praxis in Rodenbach als Glücksfall erwiesen. Er habe sich gut und schnell in die westliche Gesellschaft einleben können und auch die entsprechende Unterstützung in der Praxis gefunden.

Eine West-Regelung ermöglichte Besuche seines Sohnes. Der Junge flog im Alter von sieben und acht Jahren monatlich von Leipzig mit der Lufthansa nach Frankfurt, und Lutz Henske konnte ihn dann dort abholen. "Sonntagnachmittags habe ich ihn dann wieder zurückgebracht", erinnert er sich an diese Zeit. Seine erste Frau heiratete später den parteinahen Gynäkologen.

Von der Öffnung der Mauer hat Lutz Henske erst einen Tag später erfahren. Er erfuhr das Ereignis von seinen Angestellten. Er schloss seine Praxis an diesem Tag, "denn an normale Arbeit war an diesem Tag nicht mehr zu denken".

Später erhielt er Einsicht in seine Stasiakten. Hier erfuhr er, dass in der Familie und auch im Freundeskreis informative Mitarbeiter der Stasi auf ihn angesetzt waren, darunter auch sehr gute Freunde mit westlicher Einstellung. Zwei davon begangen laut Henske später Selbstmord. Auch nach seiner Flucht wurde er von der Stasi beobachtet, so der Mediziner.


Quelle: gelnhaeuser-tageblatt.de


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen